Carry You
Carry You

Ein letztes Mal sah ich zu Aro, der sich nicht vom Fußende des Bettes wegbewegt hatte, ehe ich vom Schlaf übermannt wurde und mich in der Dunkelheit widerfand. Ich konnte nichts sehen, drehte mich immer wieder um die eigene Achse. Doch nichts. „Verräterin…“. Ein Wispern, gefährlich nah. Erneut wirbelte ich herum und doch sah ich nichts. „Du hast uns nicht geholfen, hast dich versteckt. Feigling.“. Tränen stiegen in meinen Augen auf. „Ich wollte das nicht…“, flüsterte ich in die Stille hinein. „Du hast es aber getan. Deine Familie im Stich gelassen und jetzt?“. Ich begann, zu rennen. Immer weiter, in der Hoffnung, ich würde den Stimmen entkommen. „Weglaufen bringt nichts. Dreh dich um, Feigling.“, säuselte eine der Stimmen und ich hielt mir die Ohren zu. „Verschwindet!“, rief ich verzweifelt, doch sie blieben. „Du hast bereits verloren. Sieh es ein. Früher oder später wirst auch du sterben!“, schrien die Stimmen und ich fiel zu Boden. 

Weinend hielt ich mir noch immer die Ohren zu, obwohl ich wusste, dass es nichts brachte. „Alleine.“. „Verlassen!“. „Unwürdig.“. „Verräterin!“. Wortfetzen, die mein Herz zum brechen brachten, es fühlte sich an, als würde es in tausend Splitter zerspringen. „Lasst mich doch endlich in Ruhe!“, schrie ich und kauerte mich auf dem Boden zusammen. Kälte kroch meinen Körper hoch. Schuldgefühle übermannten mich. Ich war schuld. Meine Familie war meinetwegen gestorben und ich war zu feige gewesen, um ihnen zu helfen. Ich war alleine, verlassen in diesem schwarzen Loch, in meiner eigenen Traumwelt, in der ich mich so sicher gefühlt hatte, wie nirgends sonst. Aufwachen wäre meine Lösung gewesen, doch die Stimmen schienen mich daran zu hindern. „ Du bist schuld!“, riefen sie immer wieder und ich spürte, wie jedes Mal ein Stück meiner Seele verletzt wurde. Sämtliche Erinnerungen an meine Familie, die ich eigentlich als positives Erlebnis abgespeichert hatte, kamen hoch und veränderten sich ins Negative. Sie enthielten immer etwas Trauriges, immer mehr Personen verschwanden in meinen Erinnerungen, bis nur noch meine kleine Schwester an meiner Seite war. 

Es war damals, als wir im Wald spazieren gegangen sind. Ich hatte ihre Hand gehalten, damit ich sie nicht verlieren würde. Ich versuchte, die Erinnerung festzuhalten, doch sie verblasste. Genauso wie alle anderen. Jetzt hatte ich nichts mehr. Je mehr Vorwürfe ich an meinen Kopf geworfen bekam, desto mehr sank ich in mir zusammen. Es gab nichts Gutes mehr, an das ich denken konnte. „Genug jetzt!“, herrschte plötzlich eine andere Stimme dazwischen und ich sah auf. „Großmutter…?“, wisperte ich und sah zu ihr hoch. „Elyssa… Meine Kleine… Wieso hast du nicht auf deine Familie aufgepasst?“, fragte sie traurig und in ihren sonst so gütigen Augen spiegelte sich unendliche Trauer und auch eine Spur von Zorn wieder. „Es tut mir so leid, Großmutter… Ich wollte das nicht, wirklich…“, doch sie schien mir nicht zuzuhören. Sie schwieg und starrte mich an. „Du bist eine wahre Enttäuschung. Für uns alle. Für die gesamte Generation der Träumer. Und was noch viel schlimmer ist… Eine Enttäuschung für unsere gesamte Familie.“ . Ich begann erneut zu weinen. Träne um Träne fiel. Ich wollte hier raus, aus diesem grausamen Traum aufwachen. Ich wollte zu Aro. Bei ihm fühlte ich mich sicher und geborgen, auch, wenn ich ihn  eigentlich gar nicht kannte. Schreie erfüllten die Dunkelheit und ich brauchte eine Weile, um zu realisieren, dass ich diejenige war, die schrie.

„Elyssa, wach auf!“.  Erschrocken fuhr ich hoch und saß kerzengerade im Bett. Schnell musterte ich die Umgebung, meine Augen huschten von einem Gegenstand sofort zum nächsten, bis sie an roten Iriden hängen blieben. „Aro…“, wisperte ich und sah ihn an. Er schwieg, zog mich in seine Arme und gab mir somit Sicherheit. Ich war nicht alleine. Er war bei mir. „Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht…“, murmelte er und ich nickte nur leicht, um zu zeigen, dass ich verstanden hatte. „Ich habe Angst…“, flüsterte ich und war froh, um den Halt, den er mir gab. „Vor wem?“. Er klang so aufrichtig, als würde er mich nicht dafür verurteilen, dass ich in seinen Armen lag und weinte. „Vor den Stimmen der Vergangenheit… den Stimmen meiner Familie…“. Er seufzte und verstärkte seinen Griff um mich. Er strahlte Kälte aus, doch es war mir in diesem Augenblick ziemlich egal. „Man braucht vor niemandem Angst haben. Wenn man jemanden fürchtet, dann kommt es daher, dass man diesem Jemand bereits Macht über sich selbst eingeräumt hat.“. Seine Worte ergaben durchaus Sinn. Er schien die Worte sorgfältig gewählt zu haben, um sie mir so verständlich wie nur irgend möglich zu machen. Ich grübelte. „Wenn ich früher verzweifelt war, fand ich immer Trost darin, dass die Liebe und die Wahrheit in der Geschichte immer gesiegt haben. Aber jetzt… Jetzt weiß ich, dass die Wahrheit meist wie ein Schlag ins Gesicht ist…“, sagte ich leise, meine Tränen waren halbwegs getrocknet und Aro hatte mich aus seinen Armen entlassen. Er sah mich zweifelnd an und ich senkte den Kopf, als er meine Hand in seine nahm. „Du warst immer eine Kämpferin, warst immer stärker als deine Hindernisse. Du warst immer härter als die Steine, die man dir in den Weg gelegt hat und warst immer mutiger, als deine Ängste. Elyssa, du wirst es auch diesmal sein. Ich habe in meinen über 1000 Lebjahren noch nie jemanden wie dich gesehen…“. Ich starrte ihn an. Gewissermaßen war ich gerade sprachlos. „Ich danke Ihnen…“, flüsterte ich und versuchte, meine gesamte Dankbarkeit in diesen einen Satz zu legen. Eine Weile lang sahen wir uns einfach nur an. Dunkelbraun traf auf rot und ich wusste zum ersten Mal genau, was ich tun musste.

Manchmal war es an der Zeit, ein altes Buch zu schließen, da es nichts bringt, die Kapitel immer und immer wieder zu lesen. Sie ändern sich nicht. Sie bleiben, wie sie einst geschrieben wurden. Und manchmal ist es besser, ein neues Buch zu öffnen. Die Zeilen mit neuen Worten und neuer Hoffnung zu füllen. Und das sollte mein Anfang in ein neues Leben sein. Mit glücklichen Erinnerungen an meine Familie und mit Aro an meiner Seite. Ich lächelte. „Vielleicht solltest du gehen… Ich bin sicher, dass sich deine Brüder fragen, wo du bist.“, meinte ich dann entschlossen und er lächelte mich warm an, ehe er sich erhob. „Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder…“, sagte er und ging. Erst im Nachhinein fiel mir auf, dass ich ihn geduzt hatte…